Ardiana Salihu: Woertigo [DE]

[Shkruar drejtpërdrejt në gjermanisht nga autorja. 
Copyright Ardiana Salihu]

Nachdem das halbleere Geschirr vom müden Tisch und die letzten Töne der halbstummen Musik von müden Ohren weggeräumt waren, setzten sie sich, obwohl immer noch etwas böse, nebeneinander und fingen an unermüdet die Wand gegenüber anzustarren, als würden sie von dieser erwarten, das (un)heimlich über ihren Köpfen herabgesunkene Schweigen aufzusaugen. Obschon sich soweit keiner und nichts rührte, schien der Raum langsam in eine unsichtbare Unruhe überzugleiten, so dass auch die letzten bereits am Verblassen, immer noch draußen an der alten Stadtmauer hängenden Gedanken, unschlüssig hin und her zu geißeln schienen – zwischen einer aufgezwungenen Erinnerung die ein mögliches, nur allzu menschliches Schicksal- oder Launenverhalten, sprich einen Abschied, beschönigen versucht und dem genau Gegenteil dessen, sprich der Annahnme, ein Abschied bedarf womöglich keiner Erinnerung, weil sich dadurch diese auch verabschieden müsse, wenn nicht, diese zuallererst. Das schwebende Schweigen dieser Nacht hatte sich jedoch früher eingenistet, viel früher, irgendwann als sie die meisten, wenn nicht alle schönen Worte, die sie bis dahin kannten, untereinander fertig ausgetauscht hatten. Nachdem die schönen Worte aus waren und das Universum ihnen unbemerkt noch die letzten vom Vergessen bedrohte Urwörter der Liebe abnahm, blieben nur noch die weniger schöne Worte, und die, schmerzlich am bekanntesten – diejenigen die eins zu eins den alten schönen gleichen, aber nichts mehr besagen. 

Die alte Stadtmauer war auch an jenem Abend mindestens so schön wie immer und wie jede Mauer nachts, fesselnd zugleich; der vor blassen Laune bis auf ein krummes Viertel abgemagerte Mond blickte zudem unglaublich, fast verdächtig unecht durch die fehlenden Mauersteine, so dass auch die pompös vom Kellner vorgeführte Entstehungsgeschichte der Mauer, dieser Magie unmöglich etwas anhaben konnte – vielmehr sie, die Frau also, ertappte sich just dabei, wie sie dieses Metaphergestein insgeheim als eine Art Mitbringsel für ihre Zukunftssucht bestahl: vernebelt malte sie es sich aus, wie sie alles Wertvolle was sie besaß, für die Errichtung einer hohen Mauer ausgibt, um danach befreit weit weg hinter (vor?) dieser zu leben. Falls es auf den Metaphern überhaupt ein Leben gibt. Er, der Mann also, war hingegen von anderen Mauern umgeben, um genauer zu sein, von der, die aus der Geschichte des Kellners immer höher und höher ragte und einer anderen, die immer mehr sichtbar wurde, aber es keinesfalls werden sollte. Daher malte er sich mit Erinnerungsfarben (übrigens, kein bisschen geheim) Szenen von der nunmehr ziemlich weit zurückliegenden süßen Wörterschlacht aus, und schien diese wie ein verspätetes Dankbarkeitsfest tief in dem Glass Cocktail zu erkoren, das, wie er sie glauben lassen wollte, nur ihr zuliebe bestellt hatte. In der Tat hatten sie beide die schwersten Cocktails, die es gab, bestellt. Warum auch immer. Warum auch nicht. Von Zeit zu Zeit hatte er sie irgendwie angesehen, sie konnte aber seinem Blick immer weniger als eine Augenvoll Sekunden standhalten, nicht nur weil ihr der eigene Blick im Wege stand. Ihr Blick war alles andere, Gedanken, Ahnungen, Unwünsche, Fragen, Reue, nur Blick war er nicht mehr. Nicht einmal ein Unblick war er geblieben. Dann hatte er sie etwas gefragt und sie hatte ihm schnell geantwortet, so schnell, dass die erschrockenen Silben beinahe auf den Kopf auf sein erstarrtes Gesicht fielen. Zum wievielten Male in den letzten Jahren spielten sie unwillkürlich Fangen rund um die einst schönste Sache, die in Echt eine Sache geworden war? Zu oft, dass man es hier zählen könnte. Und zu schwer. Er bitte sie, die Antwort zu wiederholen. Er könne es nicht glauben, sie selbst könne es unmöglich glauben was sie da sagte, meint er, daher müsse sie die Antwort wiederholen und ihm dabei tief in die Augen schauen. Sie antwortet zunächst mit einem Seufzer, eines ihrer inzwischen meist gebrauchten Wörter von den verbliebenen. „Ja, ich bin mir sicher“, sagt sie augenunblicklich, von einer halbtrunkenen Bestimmtheit benommen. Er wirkt etwas verwirrt, bereitet eine Zigarette vor. Er ist dabei so ungeschickt, ja beinahe unmöglich. Das Feuerzeug muss er vom Kellner ausborgen, dieser verschwindet für einige Minuten, dann noch für einige mehr. Als er endlich zurückkommt, hat sich das Verlangen nach der Zigarette in eine nackte, fast ekelige Pflicht verwandelt, trotzdem kann sie aus seinem Blick einen Urfunken schräger Zufriedenheit rausfischen. Sie hatte einige Beobachtungen in ihrem Leben gemacht und eine davon war die, dass ein Mann eher eine Frau verlässt, als dass er mit dem Rauchen aufhört; ja, ein Mann kann einer Frau überzeugend versprechen, dass er wohl imstande sei, (nicht nur) Zigaretten ihr zuliebe aufzugeben, das bliebe aber oft eines der schönsten Versprechen aus der Sicht des Mannes und eines der widerwärtigsten aus der Sicht der Frau und der rauchende Mann und die rauchende Frau werden, wenn überhaupt, meist aus ganz anderen Gründen das Rauchen aufgeben, wenngleich sie in der Regel das Gegenteil beteuern. Ihr schien es, in dem was sie weiterhin ihr Leben zu nennen pflegte genügend solcher Beobachtungen gesammelt zu haben, viele von denen glücklicherweise auch bald wieder verworfen um danach mehr von diesen zu sammeln und wieder hinzuschmeißen, immer wieder und immer wieder, bis sie eines Tages erfuhr, dass sie es soweit gebracht hatte, ihr Leben nur mehr beobachten zu können. Und jetzt, machte sie die Beobachtung, dass keine Beobachtung ihr helfen wird, die Blicke dieses allzu düster in eine stockblinde Nacht mündenden Leides zu deuten, nicht seine, nicht ihre eigenen, nicht die des Mondes (der übrigens einst Trau- jetzt nur mehr Trauerzeuge ihrer Liebe war), auch nicht die der Mauer die, wie verschwitze Selbstmorde hinunter am Bächlein prallten. 

Unterdessen fühlte sie, wie sie diese im Zimmer und mittlerweile auch im ganzen Haus niedergelassene Schweigepest immer mehr und mehr mochte. Es verhalf ihr, die inneren Worte langsam wiederzufinden, auch diejenigen die es zu diesem Zeitpunkt noch nicht geben sollte. Es verhalf ihr, sich von dem, in der Kindheit erlernten, beim Alltagsleben fleißig gelebten und letztlich tief in ihr selbst eingeprägten Pragmatismus langsam zu lösen, obgleich dies zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal annähernd möglich sein sollte. In der Tat hatte sie im Grunde nichts gegen Pragmatismus, nur, in ihrem Leben gab es zu viel davon und ab einem bestimmten Zeitpunkt nur mehr ihn, sodass sie nicht selten von seltsamsten Gedanken überfallen wurde; einer der düstersten verfolgte sie nun seit ihrer Jugend, wobei sie oft in Albträumen geriet und es ihr immer schwerer fiel, die makabren Blicke von den Gesichtern ihrer meist geliebten Menschen zu verscheuchen, die aus „pragmatischen Gründen“ ihre eigenen geliebten Tiere oder Menschen liebevoll erlösten. Ihr inzwischen unheilbarer Pragmatismus ging mutig so weit, dass sie es sich vorstellen konnte, ihr Leben in der bisherigen Echtheit in den Träumen fortführen zu können, sollte sich die Welt einmal soweit ein- oder aussperren, dass keiner mehr irgendwohin könne – obgleich sie ganz genau wusste, dass solch lächerliche Szenarien nur in ihrem Kopf vorkamen. Am liebsten würde sie eine rückwirkende Gedankeneuthanasie vornehmen, um diesem pragmatischen Teufelskreis ein Ende zu setzen, nicht nur weil sie derzeit niemanden zu erlösen beabsichtigte. Sich selbst auch nicht. 

Trotz der düsteren Gedanken, tat ihr das Vertiefen in dieses heimelige Schweigen gut – sie hatte das wirklich vermisst, diese kleinen, fast süßen banalen Dinge im Leben eines Menschen, wie das Schweigen zu zweit, z.B. Sehr bald fand sie sich in verlorene Innerlichkeiten sinken, ohne Gedanken über dies oder jenes zu hegen, sah sich von sich selbst abheben und während sie wieder zurückkehrte oder nicht, mischten sich krumme Mondgefühle in ihren Augen ein um ihr den Blick für dies und jenseits aufs Neue zu trüben. Es vergingen jedoch nicht einmal eine Handvoll Schwebereien und die Wand gegenüber blickte sie etwas zurechtweisend und fragend an, sie auffordernd, sich ein passenderes Plätzchen für das aufgehängte, von dem unbekannten Maler signierte Bild zu überlegen; zeitgleich suchte sie eine von ihren matten Beobachtungen heim: das Schweigen einer Frau ist nichts Ungewöhnliches, aber das eines Mannes kann nichts als gefährlich sein. Der Mann auf ihrer Seite schwieg tatsächlich – erkannte sie stumm in sich und dies war, unabhängig von allen möglichen Beobachtungen weltweit, ganz untypisch für ihn, nicht nur weil er immer noch so viele von den Wörtern besaß, die er loswerden wollte; manche hatte er rechtzeitig vor Universums Wutanfall versteckt gehabt und manche vor längerer Zeit ihr wie ein unverschämtes Kind vor Augen gestohlen: die letzteren waren inzwischen bis in das Buchstabenmark verstümmelt und verknöchelt, sodass man sie kaum wieder erkennen konnte. 

„Du schläfst heute im Oh!da“, – sagt er ruhigen, fast unhörbaren Stimmklangs während seine gleichgültige Miene weiterhin unverschämt mit der weißen Wand flirtet. Sie spürt das ferne Gedankenbeben in ihrem Inneren kurz aufflackern und einen Lavaseufzer sich unwillkürlich durch ihren Mund ausströmen bemühend. Die Worte waren erlösend, der Stimmklang dagegen lautete: Du hast mich in die Falle gelockt, mich an Liebe glauben lassen. Damals wie heute. All die Jahre habe ich dich geliebt, nur geliebt. Weißt du, wie sehr die Erkenntnis schmerzt, dass ein geliebter Mensch dir die Haare vom Kopf und die Seele vom Tag auswurzelt, und dies Nacht für Nacht? Trotz allem, habe ich dich wieder gesucht. Aber da wo du einmal warst, fand ich nur mehr schöne Worte, so viele, dass die Liebe darin erstickt. Und mit welch noch schöneren Worten du mich überzeugtest, das sei nicht wahr! Wie konnte ich nur zwei Mal in die gleiche Falle tappen? Zu (dreihundert? eintausend?) Teufeln sollst du gehen!“ 

Ihr Schweigen fühlt sich wie eine muntere Trübung an. Mit erschreckenden Augen und müder Brust strengt sie sich an und es gelingt ihr ein halber, schräger Blick in seine Richtung und fühlt etwas wie einen Schmerz der quer entzweit wie ein vergessenes Stück Sehnsuchtsholz im Schnee liegt. Die unsichtbaren Tränen drängen wie farblose Furcht unter den Augen zu schwimmen. Sie versucht sich zu sammeln und ihre mundlose Verzweiflung könnte deuten: „All die Jahre hast du mich geliebt, meinst du. All die dazugekommenen Jahre fühle ich wie du mir das nur mehr wie einen Schatten vorm Herzen hältst. Du konntest die Tiefe der Liebe (nicht die der Worte) nicht ertragen, daher sie nur mehr groß werden lassen. Bis sie eines Tages so groß wie ein zu lösendes Problem wuchs. Was können die Worte dafür? Oder meinst du, du wärst hier der einzige der mit leeren Worten ausgeht?...“ 

Erschöpft kehrt sie ihr Gesicht gegen die Mauer zurück und versucht darüber nachzusinnen, wo die vielen Teufel auf sie warteten und ob und wann sie ihr die Sprache mit allen Worten zurückgeben würden, einschließlich diejenigen, die sich dafür aufopfern, um z.B. einen geliebten Menschen zu beschimpfen oder zu verletzen. Ihr erster Verdacht fällt auf Oh!da. Oh!da ist kein erfundener Ort in düsteren Geschichten oder dystopischen Filmen. Es ist auch keine Metapher. Oder vielleicht doch? Neeein, mit Worten hat es überhaupt nicht zu tun. Und aus Wortsteinen ist es auch nicht gemacht. Dessen Mauer haben keine Löcher, wodurch sich ein Mondeslicht nackt durchschlingen könnte. Man kann darin keine Bilder oder Fenster anbringen. Eine obdachlose Seele wie ihre z.B. müsse es jedoch annehmen, nicht nur weil sie noch nicht im Freien schlafen kann. Sie versucht vergeblich das Aussehen dieses Ortes in Erinnerung zu rufen. Hat sie es nur in den Träumen gesehen? Will er sie in oder von ihren eigenen Träumen verbannen? Das muss sie ehestmöglich herausfinden. Es fehlt ihr jedoch jede Kraft dafür. Von den Worten ganz zu schweigen. 

Zigarette. Der Rettungskünstler aller Schweigen. Nur der Zigarettenrauch schafft es mehrmals täglich an einem Menschenherzen vorbei, beobachtet sie, viel öfter als ein Kuss oder eine Umarmung, zum Beispiel. (Ein Schmerz kann ihn eventuell überbieten. Der Schmerz kann sich aber nicht sehen lassen und ist auch nicht in Schachteln mit Warnsprüchen verpackt – ist es nicht irrsinnig und schmerzhaft, dass der Schmerz keine Altersgrenze erfordert?) Zugegeben, diese eine Sache, die Liebe, kann die Sinne gefährlicher als jeder Rauch verdrehen und es kann einem vorkommen, man könne fortan nur mehr in einem bestimmten Herzen leben, sei dies auch ein Herz ohne Dach. Das kommt einem nur so vor, versichert ihr die Beobachtung, der Zigarettenrauch ist und bleibt die einzige Wirklichkeit die das Herz passiert. Der von der Liebe besessene Mensch oder ein sonstiges Wesen wird es später oder früher erkennen (müssen). Dann, erst dann vielleicht, wird er dieses eine nie gesehene Herz etwas näher kennenlernen wollen. Wird es natürlich nicht schaffen. Eventuell wird er versuchen, es mit anderen nie gesehenen Herzen zu vergleichen. Schließlich, die Trostlosigkeit aller Herztöne ausspeien und (wieder) mit dem Rauchen anfangen. Ach, diese eine Zigarette danach, die Zigarette nach dem Leben… 

Inmitten von vernebelten Zigarettenbeobachtungen trat Oh!da langsam in Erscheinung. Man kann es mittlerweile ohne Schwierigkeiten von der Terrasse aus erkennen. Ziemlich gut versteckt war es, die ganze Zeit vor ihren Augen, eine Öffnung an der Wand mitten im schmutzig weißen Fleck hinterm fehlenden Bild. Ein Fleck, entstanden durch die Einsamkeit, dass gleich schwer auf dem Herzen liegen soll wie fünfzehn Zigaretten am Tag. Tag für Tag. Es ertönt ein wirres Geschrei. Ein Erdrutsch des Schweigens hatte angefangen und der Mond hatte sich die Augen gerissen, November zählte verzweifelt die Tage und übersprang die Nächte; er will sie einjagen und aufhalten zugleich; Rauchfäden münden in Worte, die Worte wollen fort und stolpern tödlich an der Schwelle eines Traumtors. Sie spürt einen furchtbar verwandten Blick, sieht ihn aber nicht. Schaut erwartungsvoll in seine Richtung – er hat versprochen sie alleine hinter allen Mauern zu lassen und sie gleich am nächsten Tag zum Bahnhof zu fahren. Für immer. Zu den unzähligen. Dann fängt er plötzlich laut zu lachen an. Ja, er lacht und schmeißt mit Worten herum, er hatte sie alle nach seinem besten Können verschärft und auf gespitzt und anscheinend lange genug geübt damit zu werfen. Sie versucht sich nicht mal zu schützen, gibt sich kraftlos dieser Schweigeorgie hin. Einst waren ihre Worte aus, nun sind es ihre Tränen. Sie kann die Wunden nicht mehr deuten, weder die ihres Schweigens, noch die seines Lachens. Der irrsinnige Mond hat angefangen, die augenlosen Wundstellen in den Cocktails zu tränken, der Himmel brennt höllisch. „Erkennst du das? Und das? Sieh mal, das hier hattest du mir in der Nacht geschrieben, als ich dir erzählte, meine Frau wäre endgültig ausgezogen. Ist der Satz nicht schön: „Schweigen“. So rührend, dass mir noch die Tränen kommen. Oh, sieh dir das an, das hier wirst wohl am meisten vermisst haben: „Deine Liebe hat alle meine Menschen durchdrungen. Ich sehe dich in jedem einzelnen und liebe sie umso mehr, umso echter. Und ich fühle mich wie diese Liebe selbst…“ „Das waren deine Worte“ – erwidert sie matt während sie versucht das Erbrechen zu unterdrücken. „Komm, ich helfe dir hoch, hab‘ dir gesagt du sollst nicht so viel trinken!“ Lass mich in Ruhe, ich weiß mir selbst zu helfen. „Tja, deinem Helden fehlen nun die Augen – sagt er erbost. Dir fehlen die Worte. Wie in aller Welt wirst du dir helfen?“ Und grinst. Sie spürt erneut den Blick. Nun sieht sie ihn auch, ihren liebevoll durch das Herz hindurch hochkommenden Blick. Und er scheint ihr überhaupt nicht makaber.


Revista Haemus Nr. 62-65